Vorwort der deutschen Übersetzung von Lenard Petits Buch „Die Cechov Methode“.
Von Frank Betzelt

Meine erste Begegnung mit der Methode von Michael Cechov hatte ich während der Schauspielschulzeit. Wir probierten eine Szene aus Goethes Clavigo, in der Beaumarchais Clavigo zwingt, den Verrat an seiner Schwester in aller Öffentlichkeit einzugestehen. Ich fand keinen Zugang zu Beaumarchais, weder zu seinem übersteigerten Ehrgefühl, noch zu seiner unerbittlichen Entschlossenheit. Dazu konnte ich die langen klassischen Textbögen nicht greifen, schaute mir beim Spielen permanent zu und fand mich einfach nur schrecklich.
Während dieser qualvollen Zeit fand das Schauspielschultreffen statt, wo wir einen Tag lang an Workshops von Lehrern anderer Schulen teilnehmen durften. Ein Cechov-Workshop sprach mich an, da ich einmal in einem Buch von ihm gestöbert und es ganz interessant gefunden hatte.
Wir arbeiteten mit der „psychologischen Geste“ in Verbindung mit einem „imaginären Körper“, und ich suchte natürlich nach einer Geste für den Beaumarchais. Nach einiger Zeit der Erarbeitung probierte ich den Text mit der gefundenen Geste aus. Was während dessen passierte, werde ich nie vergessen: Ich spürte eine unglaubliche Kraft in mir. Ich hatte das Gefühl, einen völlig anderen, viel kompakteren Körper zu haben, aus dem die Sprache in einer Weise herausbrach, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die langen Textbögen waren kein Problem mehr, und emotional war auf einmal ganz klar: Es ist eine Sache von Leben und Tod, die Ehre meiner Schwester wiederherzustellen. Gedanklich konnte ich zwar dazu immer noch keinen Bezug herstellen, aber wenn ich mit der Geste den Text sagte, erfasste ich auf einer anderen Ebene die Welt von Beaumarchais.

Nach dieser außergewöhnlichen Erfahrung ließ mich die Cechov-Methode nicht mehr los. Und bis heute kann ich mich immer mehr für sie begeistern, je länger ich mich mit ihr beschäftige.
Cechovs Schauspieltechnik unterscheidet sich grundsätzlich von Stanislawskis Ansatz und dem vieler seiner Nachfolger.
Michael Cechov – übrigens ein Neffe des bekannten Autors Anton Cechov – galt als einer der bedeutendsten Schauspieler am Moskauer Künstlertheater unter Stanislawski und hatte lange bei ihm gelernt. Stanislawski vermittelte den Schauspielern, den emotionalen Zugang zur Figur aus ihrem persönlichen Leben zu schöpfen, aus dem sogenannten „Als ob“. Um die Situation der Rolle glaubwürdig zu verkörpern, sollten sie ähnliche Situationen aus dem eigenen Erleben finden.
Cechov empfand es jedoch als Limitation seiner Kreativität, die Rolle in dieser Weise zu sich heranzuziehen. Er wollte sich zur Rolle hin bewegen, über sich hinaus und in die Rolle hineinwachsen. Durch diesen Weg gelangen ihm seine einzigartigen Charakterdarstellungen.
Als Stanislawski Cechov trotz vieler Differenzen die künstlerische Leitung des Studios übertrug, um neue Ideen zu entwickeln, begann Cechov, seine Methode zu formen. Er erforschte seinen eigenen intuitiven Schauspielprozess wie auch den anderer herausragender Schauspieler. Er suchte Inspiration bei Jevgenij Wachtangov und Rudolf Steiner und entdeckte: Für alle inneren Bewegungen – Emotionen, Impulse, Wünsche, Ängste, Sympathien, Abneigungen – ist es möglich, einen adäquaten körperlichen Ausdruck zu finden. Andersherum ist es auch möglich, durch einen solchen körperlichen Vorgang eine intensive innere Bewegung zu erzeugen.

Für die innere Bewegung einer schmerzlichen Sehnsucht zum Beispiel könnte eine kraftvolle Verkörperung sein, die Arme und den ganzen Körper so weit wie möglich nach vorne auszustrecken. Dies ist keine Alltagsgeste, sondern ein archetypischer, ganzkörperlicher Ausdruck für dieses Verlangen. Wenn ich diese „psychologische Geste“ ausübe, wird sie in mir Sehnsucht hervorrufen. Mit etwas Übung kann ich die Geste dann nur „energetisch“ machen, also ohne den Körper zu bewegen, und die Sehnsucht entsteht in mir.
Ähnliches ist mit jeglichem inneren Bild möglich. Zum Beispiel erzeugt das Bild eines langen, hageren Menschen in uns spontan etwas anderes als das eines kleinen, rundlichen Menschen, sehr große Füße lösen etwas anderes aus als winzig kleine Füße. Wenn wir einen solchen „imaginären Körper“ in uns aufnehmen, wird es sich nach einer Weile tatsächlich so anfühlen, als hätten wir eine andere Körperform. Auch wenn der physische Körper gleich bleibt, verhalten wir uns auf einmal anders und unsere ganze Ausstrahlung verändert sich. Wir denken und fühlen sogar anders.
Wenn man so mit dem Körper und der Imagination an die Rolle herangeht – wie auch an eine Szene und einzelne Momente –, ist der Schauspieler nicht mehr auf seine persönliche Erfahrungswelt beschränkt. Er bekommt einen Zugang zu dem, was C.G. Jung das „kollektive Unbewusste“ nannte: einem intuitiven, universellen Wissen über das Menschsein, das in uns allen schlummert.
Natürlich zapfen manche Schauspieler diese Quellen auf ihre Art intuitiv an. Cechov hat darüber hinaus handwerkliche Mittel entwickelt, mit denen es möglich ist, tiefer und gezielter zu suchen. Und mit deren Hilfe der wertvolle Fund sicherer geborgen werden kann. Zudem erschafft die Chemie zwischen Schauspieler, Text und benutztem Mittel – wie etwa der Geste – auf magische Weise nicht nur das, wonach man sucht. Sie lässt unerwartete Aspekte der Rolle entstehen, die den Charakter lebendiger, widersprüchlicher und über­raschender machen.
Neben der Rollengestaltung war Cechov auch die Befreiung des Instruments ein großes Anliegen. Bei seinen Forschungen zeigte sich, dass das Training seiner Techniken den Körper sensibilisierte und die Ausstrahlung auf der Bühne vergrößerte. Auch beflügelte es Fantasie und Spielfreude und vertiefte das emotionale Empfinden. Die Übungen bereiteten den Schauspielern zudem große Freude, waren ein sinnlicher Genuss für sie und sie blühten dabei auf.

Seit meiner ersten Begegnung mit der Methode während der Schauspielschule habe ich unterschiedlichste Cechov-Lehrer kennengelernt. Am meisten inspiriert hat mich eindeutig Lenard Petit. Bei ihm ist die handwerkliche Vermittlung so einfach, klar, spielerisch, belebend und leicht umsetzbar, wie man sich das nur wünschen kann, und die Wirkung lässt einen staunen. Sein Unterricht ist pragmatisch, präzise und strukturiert, doch fühlt es sich eher wie ein Forschungsspielplatz oder eine Entdeckungsreise an. Lenards Begeisterung für die Arbeit, seine direkte Art, sein feines Gespür und nicht zuletzt sein Humor – er hat seine Bühnenlaufbahn als Clown begonnen – laden dazu ein, sich zu öffnen und jeden Vorschlag bedenkenlos auszuprobieren.
Es fasziniert mich, dass er wie kein anderer mit unglaublicher Klarheit Cechovs Werk bis in jeden Aspekt hinein durchdrungen hat. Und er ist über ihn hinausgegangen, hat jede Vagheit der Vermittlung konkretisiert, die Essenz der Techniken herausdestilliert und unermüdlich weitergeforscht und entwickelt, alles in Cechovs Geist. Für die Arbeit des Schauspielers im Berufsalltag sind diese Weiterentwicklungen und Konkretisierungen von unschätzbarem Wert.
So wie Lenards Arbeit ist auch sein Buch: klar, strukturiert, einfach, pragmatisch und anwendbar. Weil es sehr komprimiert und gehaltvoll ist, rate ich, es nicht in einem Zug zu lesen, sondern Stück für Stück. Und ganz besonders empfehle ich, die Übungen selbst auszuprobieren. Nicht morgen, sondern gleich heute. Sie sind anschaulich erklärt und lassen sich gut alleine umsetzen. Nur so bekommt man wirklich einen Geschmack davon, was „Cechov“ ist.

In diesem Buch schreibt Lenard ausschließlich über das Theater. Das ist sein Medium. Ich dagegen arbeite seit vielen Jahren vorrangig mit Filmschauspielern. Und ich bin in der glücklichen Lage, fast täglich erleben zu können, wie nutzbar diese Methode auch für das Medium Film ist. Daher bin sehr froh, dass Hannah, Jörg und Mark sofort bereit waren, die Filmtauglichkeit dieser Methode mit ihren Statements und dem Coverfoto zu unterstreichen.
Ebenso erlebe ich, wie leicht Schauspieler mit anderem methodischem Hintergrund die Techniken Cechovs in ihre Arbeit integrieren können und wie wirkungsvoll sich verschiedene Ansätze gegenseitig befruchten.
Von Lenard zu lernen hat mich und meine Arbeit mit Schauspielern wesentlich und nachhaltig beeinflusst. Ich bin ungemein dankbar dafür, ihm begegnet zu sein. Und ich wünsche mir, dass durch dieses Buch noch viele weitere Menschen, Schauspieler wie Lehrer, Regisseure und Interessierte, Lust auf mehr „Cechov“ bekommen.

Frank Betzelt im Januar 2014

aus:
Lenard Petit: „Die Cechov-Methode“ – Handbuch für Schauspieler
Henschel-Verlag, 2014